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prof. dr. Petra Leutner iM INTERVIEW

“In China entsteht möglicherweise eine neue Art der Verbindung von Masse und Individualität”

Prof. Dr. Petra Leutner, Professorin für Modetheorie und Ästhetik an der AMD Hamburg, über ihren Arbeitsbesuch in der Volksrepublik

Die Zhejiang University ist eine der ältesten Hochschulen Chinas, im Ranking häufig höher bewertet als die Universität Peking. Sie brachte Nobelpreisträger hervor und ist weltweit bekannt als führende Forschungsuniversität. Kürzlich war Prof. Dr. Petra Leutner dort, sie ist Professorin für Modetheorie und Ästhetik an der AMD Hamburg.

Petra Leutner war eingeladen von Prof. Wang Jie, Faculty of Media and Cross-Cultural Communication, Hangzhou, Zhejiang University, Chief Editor of Research on Marxist Aesthetics. Sie war ihm empfohlen worden, da sie auf internationalen Konferenzen über Modetheorie vorgetragen hat und Mitglied im Beirat der deutschen Gesellschaft für Ästhetik ist. Zu den Erfahrungen ihres China-Besuchs befragte sie der Journalist Andreas Bailo.

Für das internationale Symposium „Contemporary Aesthetics and Anthropology: Fashion Study“ mit 70 Vorträgen und 102 TeilnehmerInnen sowie vielen Studierenden waren Sie zum ersten Mal in der Volksrepublik China. Die Tagung wurde veranstaltet von der Faculty of Media and Cross Cultural Communication der Zhejiang Univiersity, Xixi Campus, sowie von der Universität Antwerpen und mitfinanziert von zuständigen Parteigremien für Wissenschaft und Erziehung. Welches ist der stärkste Eindruck, den Sie von Ihrer Reise mitgebracht haben?

Prof. Dr. Leutner: Sehr auffällig war für mich die soziale Ungleichheit in China, der Gegensatz zwischen Armen und Wohlhabenden auf den Straßen. Das Industrieland und das Entwicklungsland prallen aufeinander. Im Widerspruch dazu stand die Gedankenfreiheit, der exzellente fachliche Austausch und die Herzlichkeit der KollegInnen an der Zhejiang University.

Sie waren Teilnehmerin der ersten Modetheorie-Konferenz in China überhaupt. Was war anders als in Europa?

Alles. Ich hielt eine der drei Keynotes der Konferenz mit dem Titel “Toward an Aesthetic of Clothing and Fashion“ und musste alles vorher vorlegen. Das Symposium fand nicht in einem großen Uni-Hörsaal, sondern in einem Hotel-Konferenzraum statt. Das Setting war anders – immer unter einem großen roten Banner, was an einen Parteitag erinnerte. Das Podium war erhöht, was diesen Eindruck verstärkte, anders als bei einer intellektuellen Uni-Tagung bei uns. Anders war aber auch, dass es eine tolle Technik und perfekte Simultanübersetzungen Chinesisch-Englisch gab. Gleichzeitig wurde unsere Konferenz auch von Parteisekretären besucht.

Welche Rolle spielten in der Konferenz die bei uns vieldiskutierten Stichwörter Ethik und Nachhaltigkeit in der Mode?

Die Ethik spielte eine wichtige Rolle. Es gab hierzu verschiedene Vorträge – man konnte feststellen, dass einige chinesische KollegInnen der Mode moralische und ethische Vorschriften machen wollen, anders als in dem kreativen Umfeld bei uns. Die Nachhaltigkeit ist eher eine Frage in der westlichen Mode. Zwar spielt Nachhaltigkeit im politischen Diskurs in China insgesamt eine große Rolle, aber zunächst noch nicht in der Mode. Für die Mode wird meiner Beobachtung nach erwartet, dass wir das Thema Nachhaltigkeit erst einmal bei uns klären, bevor wir andere belehren.

Was waren von chinesischer Seite die wichtigsten Fragestellungen in Bezug auf Mode?

Es war das Thema Cultural Heritage. Also: Wie verhalten sich chinesische Designer zu Traditionen? Wie geht man mit historischer Kleidung der verschiedenen Epochen um, wie knüpft man an historische Vorlagen an? Es wurde deutlich, dass sich die chinesische Mode nicht nur am Westen orientieren will, man möchte vielmehr die eigene kulturelle Identität stärken. Aber das lässt sich nicht verordnen, und das Problem entsteht, ob ein solcher Ansatz bei der jungen Generation gut ankommt. Aber auch für uns stellt sich die Frage: Muss die Mode sich immer ironisch zur eigenen Tradition verhalten, oder gäbe es nicht auch spannende Weiterführungen.

Das kommunistische China und der kapitalistische Westen bewegen sich in noch vor Jahren unvorstellbarem Tempo aufeinander zu. Stellen Sie dies nach der Konferenz auch für die Forschungsgebiete Modetheorie und Ästhetik fest?

Ästhetik ist in China in der Philosophie ein unglaublich wichtiges Fach. Zum Beispiel werden entsprechende Schriften von Kant, Hegel und der Kritischen Theorie stark rezipiert und in den Seminaren behandelt, auch Habermas und Neomarxisten wie Slavoj Zizek. Die Modetheorie hingegen ist außer Simmel gewissermaßen nicht bekannt. Barbara Vinken, Ingrid Loschek sind nicht übersetzt, aber auch Valerie Steele oder Elena Esposito nicht. Das Fachgebiet Modetheorie muss in China neu etabliert werden, deshalb gibt es auch regen Austausch mit Antwerpen. An der Uni spürte ich, dass man dies unbedingt will. Aber man will nicht die Fehler des Westens machen. Die Parteianweisung ist im Moment die, dass China auch auf dem Gebiet der Alltagskultur und der Ästhetik insgesamt aufholen soll. Nachdem sich eine starke Oberschicht entwickelt hat, will man auf dem Feld von Luxus, Lifestyle und Selbstinszenierung kulturelle Fortschritte machen; der Kunstmarkt ist ja bereits voll entfaltet.

Wie haben Sie die aktuelle Mode in China wahrgenommen, auch in Abgrenzung zur westlichen Mode?

Einige chinesische Frauen sind modebewusst und haben derzeit offensichtlich ein Interesse an Transparenz: Auffällig waren Tüllröcke unterlegt mit Stoff sowie die Farben Schwarz und Rot. Man sieht wundervolle traditionelle Kleidung, zum Beispiel in den Teehäusern. Es gibt teure westliche Modeläden, teure Handtaschen westlicher Marken. Aber auf den Straßen dominieren einfache Jeans, Röcke und billige T-Shirts – keine teuren Marken. Insgesamt gibt es in China einen Aufbruch in die Individualität. Die Antriebskräfte sind individueller Wohlstand und das gestiegene Selbstbewusstsein. Auf uns selbst schauen wir im Vergleich falsch: Wir im Westen überschätzen unsere Individualität und deren angebliche Produktivität maßlos. In China entsteht möglicherweise eine neue Art der Verbindung von Masse und Individualität. Auch vor diesem Hintergrund denke ich, dass China in 20 Jahren wirtschaftlich die wichtigste Nation der Erde sein wird.

Eine letzte Frage: Sie hielten an der Universität Zhejiang auch eine Lecture und arbeiteten mit Studierenden in einem Seminar. Wie unterscheiden sich chinesische und deutsche StudentInnen?

Die dortigen Studierenden sind sehr lebhaft und wissen mehr über den Westen als unsere Studierenden über den Osten. Nach meiner Vorlesung stellten sie differenzierte Fragen, zum Beispiel zur aktuellen französischen Philosophie, zu Derrida oder Deleuze. Manche von ihnen waren schon einmal in Europa oder den USA, viele würden sehr gerne in Europa studieren, aus allen Schichten. Insgesamt hatte ich selten den Eindruck, dass eine Unterversorgung an Informationen besteht. Ich sehe China nach meiner Reise viel differenzierter: Das Land ist offener als ich erwartet habe. Und ich bin sehr beeindruckt von dem Wissensdurst und den intellektuellen Fähigkeiten.